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Der Thurgau plant den ÖV der Zukunft

Bis 2030 soll das ÖV-Angebot im Thurgau um fast 20 Prozent wachsen. Um Angebotslücken zu schliessen, nimmt die Abteilung für Öffentlichen Verkehr auch unkonventionelle Massnahmen ins Visier: zum Beispiel On-Demand-Angebote und selbstfahrende Busse.

Zukunftsszenario: In der Region Bischofszell könnte schon bald ein selbstfahrender Rufbus die Fahrgäste abholen.

Durchgehender Halbstundentakt zwischen den Zentren und in dicht besiedelten Gebieten bis 20 Uhr. Anbindung von 17 bisher nicht erschlossenen Siedlungen: Das ÖV-Konzept 2025-2030 setzt ambitionierte Ziele. Verantwortlich dafür ist die Abteilung für Öffentlichen Verkehr beim Kanton Thurgau. «Etwa alle sechs Jahre erarbeiten wir ein ÖV-Konzept», sagt deren Leiter Stefan Thalmann.

Der 52-Jährige erklärt, dass dabei die Stärken und Schwächen des bestehenden ÖV-Angebots analysiert würden. Genauso wichtig sei die künftige Nachfrage: «Diese wird mithilfe eines Verkehrsmodells und anhand von Erfahrungswerten auf bestehenden ÖV-Linien abgeschätzt.»

Stefan Thalmann, Leiter der Abteilung ÖV.
Stefan Thalmann, Leiter der Abteilung ÖV.

Mehr kleine Ortschaften erschliessen
Die Abteilung ÖV hat zudem die Bedürfnisse der Gemeinden, Regionen und Agglomerationen abgefragt und ins ÖV-Konzept 2025–2030 einfliessen lassen. Damit eine neue Verbindung eingeführt werden kann, muss einiges zusammenpassen. Stefan Thalmann erklärt dies anhand der neu geplanten Buslinie 839, die von Aadorf über Matzingen, Lommis und Affeltrangen nach Zezikon führt: «Einer unserer Planungsgrundsätze will möglichst alle Siedlungen mit mehr als 200 Einwohnenden oder Arbeitsplätzen mit dem ÖV erschliessen. Zwischen Aadorf und Affeltrangen gibt es sechs dieser unerschlossenen Siedlungen.»

Die Abteilung ÖV habe in der Folge verschiedene Varianten zur Erschliessung geprüft. Dabei seien jeweils die Nachfrage und die damit zu erwartenden Fahrausweiseinnahmen abgeschätzt worden. «Leider haben wir keine Lösung für die Erschliessung von allen sechs Siedlungen gefunden, die auch unsere Wirtschaftlichkeitsvorgaben erfüllt hätte», bedauert Thalmann. «Mit der neu geplanten Linie 839 können wir immerhin vier Siedlungen neu erschliessen.» Nicht immer ist eine neue Linie nötig: So soll der Erler Ortsteil Riedt, der in den letzten Jahren stark gewachsen ist, durch die Verlängerung der Buslinie 942 (Amriswil–Erlen) erschlossen werden.

Vom führerlosen Bus abholen lassen
Das ÖV-Konzept 2025-2030 legt den Fokus generell etwas stärker auf die Strasse als auf die Schiene. Die Abteilung ÖV zieht dabei keine gedanklichen Scheuklappen an: «Für die Region Bischofszell planen wir beispielsweise ein On-Demand- Angebot, also ein ÖV-Angebot, das auf Anfrage funktioniert», betont Stefan Thalmann. «Konkret sind das kleine Busse, die mit der Fahrplan-App oder per Telefon gebucht und mit normalen ÖV-Fahrausweisen genutzt werden können. Diese Kleinbusse sammeln die Reisenden gemäss den eingegangenen Buchungen ein und fahren sie zum nächsten Bahnhof oder holen sie dort ab und verteilen sie.» Neu sind solche On- Demand-Angebote nicht (siehe folgende Infobox).

Bequem wie ein Taxi

Im Appenzellerland ist seit 24 Jahren der «PubliCar» unterwegs.
Im Appenzellerland ist seit 24 Jahren der «PubliCar» unterwegs.

Wer in Appenzell Innerrhoden ohne eigenes Auto von A nach B möchte, der bucht per App, Internet oder Telefon eine Fahrt im «PubliCar». Der Kleinbus holt seit 24 Jahren Fahrgäste an der Haustür ab und bringt sie zu ihrem Ziel. Das bediente Gebiet umfasst den Kanton Appenzell Innerrhoden. Zusätzlich fahren die Kleinbusse ins ausserrhodische Teufen, nach Stein oder zur Klinik in Gais. Anders als beim Taxi können unterwegs weitere Fahrgäste zusteigen. Ausserdem wird der Service werktags nur tagsüber angeboten – freitags und samstags bis 23.30 Uhr.

Für den «PubliCar» zahlt man ein übliches ÖV-Billett und zusätzlich fünf Franken für den Tür-zu-Tür-Service. «Die Appenzeller kennen PubliCar inzwischen gut», sagt Pius Graf von PostAuto. «Für Touristen ist dieses Rufbus-Angebot oft neu. Dementsprechend brauchen sie mehr Informationen. Kurze Video-Geschichten mit dem Kabarettisten Simon Enzler helfen uns dabei.»

On-Demand-Angebote wie der Rufbus schliessen Lücken in der Mobilitätskette. «Das ‹PubliCar›- Angebot ist besonders in Gebieten mit Streusiedlungen wie eben im Appenzell sinnvoll», erklärt Graf. Im Thurgau gab es zwischen 1995 und 2009 vier ‹PubliCar›-Angebote. «Die Auswertung der Buchungen zeigte, dass Fahrgäste regelmässig zu den gleichen Fahrzeiten zu den gleichen Fahrzielen unterwegs waren. Schliesslich wurde die Nachfrage so gross, dass in den früheren vier ‹PubliCar›-Gebieten etliche PostAuto-Linien entstanden sind.» (Inka Grabowsky)

Ausgefallener mutet die Idee an, dass das On-Demand-Angebot dereinst von selbstfahrenden Bussen wahrgenommen werden könnte. Aus technischer Sicht sei automatisiertes Fahren keine Zukunftsmusik, sagt Stefan Thalmann. In anderen Ländern wie den USA seien schon heute Autos ohne Fahrerin oder Fahrer im Verkehr unterwegs. Wann dies in der Schweiz möglich sein wird, lasse sich nur schwer abschätzen. Automatisiertes Fahren sei aber interessant, wenn es darum gehe, On-Demand-Angebote wirtschaftlich zu betreiben. Einen Schritt weiter ist ein Pilotprojekt mit einem selbstfahrenden Bus in Arbon (siehe folgende Infobox). Der ÖV der Zukunft rollt also schon heute an.

Geisterfahren einmal anders

In Arbon ist ab Frühsommer 2025 ein selbstfahrender Bus unterwegs.
In Arbon ist ab Frühsommer 2025 ein selbstfahrender Bus unterwegs.

Noch ist es ein Pilotprojekt mit zusätzlichem Sicherheitsfahrer oder zusätzlicher Sicherheitsfahrerin. Trotzdem gibt es in Arbons Altstadt demnächst einen Vorgeschmack auf den ÖV der Zukunft. Die Technische Gesellschaft Arbon (TGA) hat einen Elektrobus mit 20 Sitzplätzen bestellt, der sowohl automatisiert als auch manuell gefahren werden kann. «Derzeit ist gesetzlich vorgeschrieben, dass immer ein Mensch persönlich eingreifen kann», sagt Projektleiter Hansueli Bruderer. «Die Verordnung zur Gesetzesänderung im Stassenverkehrsgesetz ist aber bereits in der Vernehmlassung.

Ist sie in Kraft, kann man den Bus ferngesteuert ohne Fahrer bewegen. Das ist einzigartig in der Schweiz und Europa.» Damit es funktioniert, braucht es eine spezielle Software, eine Leitstelle und ein Training für die Technik des Busses. «Die Route wird aufgrund von genauen Strassenkarten vorprogrammiert. Auf Testfahrten werden die Daten im realen Umfeld verfeinert.» Der E-Bus wird nach Feierabend manuell für die Wartung und das Laden der Batterien in ein Depot gefahren.

Im automatisierten Modus sorgen Sensoren dafür, dass der Bus unterwegs nicht gegen plötzlich auftauchende Hindernisse fährt. Das verlangt von der Stadt Disziplin beim Schneiden von Büschen und Bäumen. Ein heruntergedrückter Ast könnte zum Stopper werden. Das Fahrzeug fährt halbstündlich einen Rundkurs mit acht Haltestellen vom Bahnhof zur Seepromenade und durch die Altstadt. Die Passagiere steigen einfach ein und aus. Bezahlen müssen sie in der Pilotphase bis 2027 noch nichts. Das Projekt wird durch Fördergelder aus dem Erlös des Börsengangs der Thurgauer Kantonalbank, durch die TGA und weitere Sponsoren finanziert und durch die Stadt Arbon unterstützt. (Inka Grabowsky)


(Text: Cyrill Rüegger, Illustration: Patrick Angst, teilweise mit Adobe Firefly KI erstellt, Bilder: Patrick Itten, PostAuto, Technische Gesellschaft Arbon)