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«Von der Lage profitiert»

Vergleichsweise früh entstand im Thurgau ein gut ausgebautes Schienennetz. Der Thurgauer Historiker Thomas Ammann erklärt im Interview, weshalb das so war.

Die Thurgauer Bevölkerung habe ihre Skepsis gegenüber der Eisenbahn früh abgelegt, sagt Thomas Ammann.

Wann und wo fuhr der erste Zug im Thurgau?
Der erste fahrplanmässige Personenzug im Kanton Thurgau fuhr am 16. Mai 1855 auf der Strecke RomanshornWinterthur. Interessant ist: Die Linie endete damals in Winterthur. Die eigentlich strategisch wichtigere Linie von Winterthur ins wirtschaftliche Zentrum Zürich ging erst ein Jahr später in Betrieb.

Gehörte der Thurgau damit zu den Vorreitern im Eisenbahnverkehr?
In der Schweiz wurde der Thurgau vergleichsweise früh erschlossen. RomanshornWinterthur war die vierte innerschweizerische Strecke und die erste längere Verbindung. Allerdings: Der Thurgau profitierte primär von seiner Lage zwischen Zürich und dem Bodensee sowie – im weiteren Sinne – Osteuropa.

Was meinen Sie damit?
Die Verbindung von Zürich an den Bodensee wurde in erster Linie als Transitstrecke für den Gütertransport gebaut. Man suchte nach schnellen Wegen zu den Kornkammern in Osteuropa und den Adriahäfen. Die Erschliessung des Kantons Thurgau stand nicht im Vordergrund.

Sogar Bahnpionier Alfred Escher mischte beim Ausbau des Thurgauer Schienennetzes mit.
Escher fand in der Thurgauer Regierung Verbündete, die seinen Plänen wohlgesinnt waren. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, Escher hätte ein Interesse am Thurgau selbst gehabt. Es ging ihm um eine schnelle, günstige Anbindung ans Schienennetz Württembergs und Österreichs. Dies hätte Escher wahrscheinlich via St. Gallen realisiert, wäre der politische Weg ähnlich einfach wie im Thurgau gewesen.

Die Entwicklung ging aber nur am Anfang im Eilzugtempo voran. Was geschah dann?
Die Schweiz hatte zu Beginn viel aufzuholen. Gegenüber dem restlichen Europa hinkte man nämlich ziemlich hinterher. Als 1847 die 25 Kilometer lange Spanisch-Brötli-Bahn ZürichBaden in Betrieb ging, verfügte beispielsweise Grossbritannien bereits über 10'500 Kilometer Schienennetz. Das Aufholen führte aber auch dazu, dass viele unrentable Strecken gebaut wurden und die «Eisenbahn-Blase» irgendwann platzte. Die Verschuldung und Insolvenz einiger Privatbahnen führten in den 1870er-Jahren zu deutlich mehr Zurückhaltung beim Bau neuer Linien.

Wie wirkte sich die Eisenbahn auf die Wirtschaft und Gesellschaft im Thurgau aus?
Sie beschleunigte den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Im Bezirk Arbon beispielsweise waren 1860 nur 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der Industrie tätig. 50 Jahre später waren es beinahe zwei Drittel. In diesem Zeitraum stiegen die Bevölkerungszahlen vor allem in jenen Orten, die gut mit der Eisenbahn erschlossen waren: Arbons Bevölkerung vervierfachte sich, Romanshorn hatte 1900 mehr als dreimal so viele Einwohnerinnen und Einwohner als Ende der 1850er-Jahre. Andere Orte wie Affeltrangen, Neunforn oder Wagenhausen, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch keinen Anschluss ans Schienennetz hatten, verzeichneten gleichzeitig einen Bevölkerungsschwund. Wuppenau verlor zwischen 1850 und 1900 sogar einen Drittel seiner Einwohnerinnen und Einwohner.

Welches ist die grösste Besonderheit des Thurgauer Schienennetzes?
Der Kanton Thurgau verfügt heute über ein im Vergleich zur Fläche und Bevölkerungszahl sehr dichtes Schienennetz. Dieses verdankt er dem Enthusiasmus und Unternehmergeist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zudem legten die Thurgauerinnen und Thurgauer rasch ihre Skepsis ab, weil sie früh mit der Eisenbahn in Kontakt kamen. Gleichzeitig profitierte der Thurgau von der strategisch günstigen Lage zwischen den wirtschaftlichen Zentren der Schweiz und dem benachbarten Ausland. Das führte auch dazu, dass es heute noch Verbindungen gibt, die in ihrer Geschichte meist äusserst unrentabel waren. Wären sie vor 150 Jahren nicht oder anders gebaut worden, wäre die Entwicklung des Kantons wohl in eine gänzlich andere Richtung beeinflusst worden.

Gibt es auch heute noch Diskussionen um den Ausbau des Schienennetzes?
In der Schweiz gibt es wohl nur noch wenig Potenzial für neue Verbindungen. Der Fokus liegt eher auf Ausbauten – beispielsweise dem Doppelspurausbau zwischen Romanshorn und Kreuzlingen – und schnelleren Direktverbindungen. Wichtiger ist in einem ländlichen Kanton wie dem Thurgau eher die Zukunft des strassengebundenen ÖV. Hier werden neue Konzepte wie Rufbusse und -taxis eine wesentliche Rolle spielen.

Zur Person

Thomas Ammann ist Kommunikationsverantwortlicher beim ÖV-Branchenverband Alliance Swisspass. Der 32-jährige Historiker wuchs in Amriswil auf und hat sich in seiner Masterarbeit an der Universität Bern mit der Bahngeschichte des Kantons Thurgau befasst.

(Interview und Bild: Cyrill Rüegger)